Duplex Piano: Das doppelte Klangwunder

Ein großartiges Instrument, der Duplex-Flügel des Komponisten und Erfinders Emánuel Moór, wird wiederentdeckt.

Von Florian Zinnecker

16. November 2022

 

Völlig neu war die Idee nicht, einen Flügel mit zwei Manualen zu bauen. Auch Franz Liszt und Ferruccio Busoni hatten darüber schon nachgedacht. Emánuel Moór hatte dann noch einen entscheidenden Einfall mehr: Die zweite Klaviatur sollte nicht einfach nur helfen, Tonsprünge abzukürzen, die auf dem normalen Klavier große Virtuosität erfordern. Zusätzlich sollte der Pianist über ein Pedal die Töne koppeln können – sodass bei einem Tastendruck gleich zwei Töne erklingen: der angeschlagene Ton und noch einmal der gleiche, eine Oktave höher. Wer auf einem konventionellen Klavier fünf Tasten drückt, hört fünf Töne. Hier sind es zehn.

Der Duplex-Flügel, so nannte ihn sein Erfinder, sollte das Klavier der Zukunft werden, ein ideales Instrument für die Werke Bachs, zumindest nach den Kriterien der Romantik. Maurice Ravel sagte über das Instrument, zum ersten Mal klängen seine Werke jetzt so, wie er sie sich immer vorgestellt habe. Der Cellist Pablo Casals hielt seinen Erfinder für ein Genie. Die Mechanik ist kompliziert, der Trick aber einfach: Das Kopplungspedal fächert jede Harmonie zu doppelter Größe auf, dadurch klingt der Flügel wie ein Orchester – in der tiefen Lage tönen auf einmal die Kontrabässe durch, in der hohen Lage die Piccolo-Flöte. Oder, ein bisschen weniger romantisch formuliert: Man kann alleine vierhändig spielen.

Die Geschichte des Duplex-Pianos ist die Geschichte eines künstlerischen Geniestreichs und eines wirtschaftlichen Flops. Denn obwohl vor 100 Jahren große Klavierbauer wie Pleyel, Bechstein, Steinway und Bösendorfer an die Idee glaubten, ist das Instrument heute so gut wie vergessen – und sicher wäre es längst ganz verschwunden, gäbe es nicht bis heute eine Reihe an Sammlern und Musikern (hier muss man nicht gendern, sie sind alle Männer), die so sehr in den Klang des Instruments verschossen sind, dass sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dem Duplex-Flügel zu einer Renaissance zu verhelfen. Bislang mit überschaubarem Erfolg. Aber das könnte sich bald ändern.

Warum der Duplex-Flügel nach dem Tod seines Erfinders in Vergessenheit geriet? Mag sein, dass der fehlende Spielkomfort dazu beitrug. Bei gedrücktem Kopplungspedal muss jede Taste zwei Hämmerchen und eine komplexe Mechanik bewegen, das wird nicht nur bei mehrsätzigen Werken anstrengend. Mag auch sein, dass die Erfindung in den 1920ern ein paar Jahrzehnte zu spät kam. Nicht unwesentlich war wohl auch der Umstand, dass Moór Jude war, anderthalb Jahre nach seinem Tod begann der Nationalsozialismus.

Es war Zufall, dass David Stromberg überhaupt von der Existenz des Duplex-Flügels erfuhr. Stromberg ist Cellist, gerade hat er Bachs Cello-Suiten auf Barockcello eingespielt, für die sechste Suite ließ er sich eigens ein fünfsaitiges Cello bauen. Auf Emánuel Moór wurde er aufmerksam, als er Literatur für zwei Celli suchte und auf ein Doppelkonzert des Komponisten stieß. Er begann sich einzulesen, entdeckte weitere Werke, auch für das Duplex-Piano, fand dazu eine historische Aufnahme und suchte nach einem spielbaren Klavier.

Der Flügel, den er fand, steht heute in der Instrumentensammlung des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg: 2,04 Meter lang, 1,48 Meter breit, mit Beinen 1,42 Meter hoch. Herstellungsnummer 4928, gebaut bei Ludwig Bösendorfer in Wien um 1933. “Es ist ein Wunder, dass er jetzt hier steht”, sagt Stromberg. Auf den ersten Blick: ein normaler Konzertflügel, nur eben mit 164 Tasten – 88 auf dem unteren Manual, 76 auf dem oberen. Koppeln lässt sich nur die untere Klaviatur, das erlaubt interessante klangliche Varianten: Spielt man die Melodiestimme unten und die Begleitung oben, wird nur die Melodie geboostert, oder umgekehrt. Spielt man mit beiden Händen unten, muss man die Töne mitdenken, die das Klavier hinzufügt – bestehende Werke bedürfen einer Bearbeitung, Kompositionen eigens für das Instrument gibt es, außer von Moór selbst, keine.

Emánuel Moór, geboren 1863 in Kecskemét in Ungarn, ist heute weitgehend vergessen. Sein Vater war Opernsänger und Kantor einer jüdischen Gemeinde, auch Moór selbst begann seine Laufbahn als Organist. Später studierte er Komposition bei Anton Bruckner, ging als Pianist auf Konzertreise, verabscheute aber das Virtuosentum, sein Geld verdiente er vor allem als Klavierlehrer. Seine vermögende erste Frau ermöglichte Moór ein Leben in Wohlstand, jahrelang wohnte er – bis zum Ersten Weltkrieg als Komponist, danach als Erfinder – in Luxushotels in der Schweiz. Moórs Schaffen: fünf Opern, acht Sinfonien, mehrere Violin-, Cello-, Bratschen-, Harfen- und Klavierkonzerte sowie ein Requiem. Sein Werkverzeichnis umfasst 151 Opuszahlen, die Musik ist überwiegend vergessen. Er war ein Hoch- und Spätromantiker, mit den Neutönern, die nach dem Ersten Weltkrieg en vogue waren, konnte er nichts anfangen.

Ähnlich unbekannt wie seine Kompositionen blieben seine Erfindungen, für die er das Komponieren aufgab, darunter: ein monströses sechssaitiges Streichinstrument, das alle Register von Violine bis Kontrabass abdeckt, aber nie gebaut wurde. An der Entwicklung des ersten Keyboards mit elektrischer Tonerzeugung war Moór als Berater beteiligt. Außerdem machte er eine der ersten Tonaufnahmen der Geschichte. Moór mag ein exzellenter Pianist gewesen sein und ein guter Komponist – ein Geschäftsmann war er nicht. Als er zunächst keine Klavierbaufirma fand, die ihm die Idee für den Duplex-Flügel abkaufen wollte, baute er den Prototyp kurzerhand selbst: indem er, mit der Hilfe zweier Tischler, ein Klavier zersägte.

David Stromberg ist fasziniert von allem, was er über Moór in Erfahrung brachte. Er beschloss, dessen Sonaten für Cello und Klavier auf CD einzuspielen, und sprach darüber mit einem Redakteur des Deutschlandfunks, der sagte: Gern, aber wenn, dann nur mit dem Duplex.

 

Ein Dreivierteljahr lang recherchierte Stromberg, die Quellenlage ist dürftig. Steinway hat einen einzigen Flügel gebaut. Der Auftraggeber: Werner von Siemens, Gründer des gleichnamigen Technikkonzerns, ein später Freund Moórs. Der Flügel steht heute in der Aula der Universität von Wisconsin in den USA. Wie viele Bösendorfer-Duplex-Flügel gebaut worden sind, ist unklar, mal heißt es 60, mal nur fünf. Bei Bösendorfer gibt es keine Aufzeichnungen über den Moór-Flügel, nur mündliche Überlieferungen ehemaliger Kolleginnen und Kollegen. Demnach sind nur zwei Doppelmanualflügel gebaut worden; bei einem Instrument sei in den 1980er-Jahren bei einem Kunden in Island ein Rückbau gemacht worden, zum zweiten Flügel verliere sich die Spur. Auch bei Bechstein kennt man keine Produktionszahlen der Moór-Flügel, eine große Serie habe es jedenfalls nicht gegeben, heißt es dort. “Das Monstrum verursachte Begeisterung und rote Zahlen”, steht vielsagend auf der Website der Firma.

Und dann fand Stromberg doch noch ein Instrument: auf Gut Hasselburg in Schleswig-Holstein. Es gehört Heikedine Körting, die – das wäre eine eigene Geschichte – viele Jahre lang Chefin des Hörspiellabels Europa war und bis heute als Regisseurin und Produzentin der Drei ???-Hörspiele arbeitet. Gründer des Labels war Körtings Ehemann Andreas Beurmann, Musikproduzent, Wissenschaftler und Besitzer von rund 200 Klavieren, Flügeln und Cembali. Darunter auch ein Duplex aus einem aufgelösten Instrumentenmuseum in den Niederlanden. Im Jahr 2000 gab Beurmann die Hälfte seiner Sammlung an das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, das dafür einen eigenen Anbau brauchte. Das Duplex-Klavier zählte nicht dazu – es blieb auf Schloss Hasselburg.

Mit dem Pianisten Florian Uhlig fuhr Stromberg nach Schloss Hasselburg, bei der ersten Probe war der Flügel noch völlig verstimmt, beim ersten Konzert im Herrenhaus dann nicht mehr. “Ich hatte tief in mir das Gefühl, das wird klappen, das hat Potenzial, man muss es versuchen”, sagt Stromberg heute. “Ich fühle mich dem Komponisten auch sehr verbunden, ich liebe seine Musik. Ich würde mich nicht für den Flügel starkmachen, wenn mir die Musik nichts sagen würde.”

Die CD-Aufnahme ist fertig geschnitten, im Frühjahr soll sie erscheinen, auch eine Konzertreihe ging schon über die Bühne. Jetzt plant Stromberg ein jährliches Festival. “Soll das Instrument wieder verstauben und in Vergessenheit geraten? Das ist eine weltweit einzigartige Sache.” Im Herbst nächsten Jahres soll das Festival starten. Damit das Duplex-Piano die Aufmerksamkeit erfährt, die ihm bisher verwehrt war.

Ein Vorgeschmack: “Emánuel Moór, Concerto for Two Cellos” u. a., Sebastian Hess, David Stromberg, Nürnberger Symphoniker (Oehms Classics)